Ansprache von Prof. Dr. Dorothea Weltecke Leiterin der Forschungsstelle für Aramäische Studien, Goethe-Universität Frankfurt a.M.
An diesem Abend blicken wir traurig auf das vergangene Jahr zurück. Oft war ich fassungslos über die internationalen politischen Entwicklungen. Die Lähmung der westlichen Öffentlichkeit und besonders der deutschen Öffentlichkeit muss uns betreffen und bestürzen. Das gilt für die Gegenwart, aber das gilt auch für die Vergangenheit.
Wir haben im letzten Jahr mit Erleichterung die Entschließung des deutschen Bundestages zur Kenntnis genommen, den Völkermord von 1915 als Völkermord zu bezeichnen und sich vor den Opfern zu verneigen. Der Bundestag beklagte, dass das Deutsche Reich als militärischer Verbündeter des Osmanischen Reiches nicht versucht habe, die Ermordungen zu stoppen und stellte ausdrücklich eine Mitschuld des deutschen Reiches fest. Ich habe diesen Beschluss heute noch einmal gelesen. Er war ein wichtiger Schritt, aber er ging in der Formulierung der wissenschaftlichen und politischen Konsequenzen nicht weit genug, weil er das Deutsche Reich nur als Mitwisser darstellt.
Ab Mai 1915 erreichten Nachrichten, Augenzeugenberichte und Anklagen über die Massaker an Christen im Osmanischen Reich die Weltöffentlichkeit. Die englischen, französischen und russischen Regierungen kündigten an, die beteiligten türkischen Regierungsmitglieder zur Verantwortung ziehen zu wollen und klagte auch die deutsche Regierung als Mittäter an. Die deutsche Regierung versuchte zu lavieren, um in der westlichen Welt ihr Gesicht zu wahren und zugleich an der militärischen Zusammenarbeit festzuhalten. Deutsche Offiziere sollten im Vorderen Orient kämpfen, aber sie sollten sich aus den Massakern heraushalten. Diese Strategie war nicht durchzuhalten, und sie war moralisch zynisch. Dieser ganze Krieg war erschreckend zynisch. Zur selben Zeit setzte das Deutsche Reich nach längerer Vorbereitung Giftgas an der Westfront ein. Beim ersten Einsatz am 22. April 1915, am Tag von Ypern, verloren mehrere Tausend französische Soldaten auf einmal ihr Leben.
Deutsche Offiziere waren am Völkermord von 1915 sehr wohl auch aktiv beteiligt, sie waren militärisch kreativ im Sinn der gemeinsamen Ziele, entweder unter deutschem oder unter osmanischem Befehl. Dazu gehörten leitende Offiziere, wie Generalfeldmarschall Colmar von der Goltz oder lokale Befehlshaber wie Graf Wolffskeel von Reichenberg, der die Eroberung des Armenierviertels in Urfa eigenständig leiten - Zitat - "durfte", wie er stolz seiner Frau nach Deutschland schrieb. Auf dem Höhepunkt der Gefechte ließ er die Kirche zerschießen. "Und merkwürdig", schrieb er, "mit dem Fall der Kirche hörte eigentlich der organisierte Widerstand auf." Und einen Absatz weiter: "Soweit war die Sache ja ganz interessant und hübsch. Jetzt beginnt jedenfalls wieder der unerfreuliche Teil. Der Abtransport der Bevölkerung und die Kriegsgerichte." Deutsche Offiziere leiteten also Angriffe auf Christen und zerstörten sakrale Orte und Kulturgut. In einem Fall mochten deutsche Militärangehörige Massaker verhindern, in einem anderen Fall, wie bei Graf Wolfskeel, halfen sie aber auch mit vollem Bewusstsein der Folgen bei der Vorbereitung. Ein und dieselbe Person konnte sich einmal für Widerstand und einmal für Beihilfe entscheiden, je nach Interessenlage.
Ja, es gab auch Widerstand unter deutschen Militärs, Ingenieuren, und Kirchenleuten, ja, es gab auch Proteste. Selbst das deutsche Außenministerium verlangte im Winter 1915 eine offizielle Distanzierung von Seiten der deutschen Regierung, nicht zuletzt, um der internationalen Kriegspropaganda gegen Deutschland keine weitere Nahrung zu geben. Wie bekannt, konnte es sich damit gegen Reichskanzler Bethman Hollweg nicht durchsetzen.
Der Völkermord von 1915 belastet also keineswegs nur das Verhältnis zwischen der Türkei und den Aramäern. Sondern es belastet auch das Verhältnis zwischen den Aramäern und den Deutschen. Wir Deutschen können nicht großmütig Vermittler in diesem Konflikt sein; wir sind selbst beteiligt.
Seit ich zum ersten Mal Amill Gorgis helfen durfte, einen von ihm übersetzten Augenzeugenbericht Korrektur zu lesen - das war Abed Mschiho Na'man von Qarabasch „Vergossenes Blut. Geschichten der Greuel, die an den Christen in der Türkei verübt wurden“, der 2001 erschien - und seit ich an Veranstaltungen zur Anerkennung des Völkermordes teilgenommen habe, bin ich mit dieser für mich schmerzlichen Tatsache konfrontiert.
Die Erforschung dieser Augenzeugenberichte steht noch am Anfang. Heute haben wir in der Forschungsstelle die Augenzeugenberichte des syrisch-katholischen Chorepiskopus Ishak Armale und des chaldäischen Bischofs von Mardin, Israel Odo, auf dem Tisch. Diese Augenzeugenberichte sind von größtem Wert. Sie wissenschaftlich einzuordnen, ihre politischen und konfessionellen Positionen zu charakterisieren, ihre Interpretation des Völkermordes zu verstehen und ihren Informationsgehalt Punkt für Punkt zu bestimmen, ist eine komplexe Aufgabe, die wir noch nicht gemeistert haben. Wenn wir nicht genauestens über Formen deutscher Mittäterschaft informiert sind, werden wir allerdings auch diese Augenzeugenberichte nicht angemessen beurteilen können. Wenn Ishaq Armale zum Beispiel schreibt, ich zitiere die Übersetzung von Gorgis und Toro: "Kann Deutschland leugnen, dass sein Vertreter (Otto Liman von) Sanders in Istanbul den Befehl gab, die Christen zu töten, ihnen höllische Qualen zuzufügen und sie auf gemeine Art zu behandeln?", dann müssen wir informiert erklären, wie er zu dieser Anklage kam. Wir werden sie wissenschaftlich so nicht stehenlassen. Aber wir müssen sie im Kontext von Armales Erfahrungen würdigen. Diese Anklage ist ein unverzichtbares Zeugnis für das schwere Erbe, dessen wir uns in Deutschland noch nicht genug bewusst sind und mit dem wir verantwortlich umgehen müssen. Diese Anklage hilft uns zu verstehen, wie unendlich groß der Schmerz und der Zorn darüber gewesen sein muss und vor allem, wie groß er immer noch ist, dass die Christen im Osmanischen Reich zu Recht christliche Deutsche ganz und gar nicht als passive Zuschauer wahrgenommen haben, sondern als Täter.
Es gibt inzwischen eine Reihe von wissenschaftlichen Studien, von denen wir einiges über die Rolle der Deutschen lernen können. Aber solche Forschungen sind noch recht kontrovers und im Vergleich zu anderen Themen der neueren Geschichte relativ vereinzelt. Noch immer halten sich die Lehrstühle für Neuere Geschichte aus der Diskussion heraus. Von der Deutschen Forschungsgemeinschaft wird immer noch kein Projekt zu diesem Problem gefördert. Damit die deutschen Historiker ihrer Verantwortung gerecht werden, bedarf es eines grundsätzlichen Umdenkens. Deshalb ist die Einsetzung einer Historikerkommission zur Untersuchung der Rolle deutscher Militärs, Politiker, Kirchenleitungen, Ingenieure, Geschäftsleute und Missionare durch den Deutschen Bundestag nach dem Vorbild der unabhängigen Historikerkommission zur Untersuchung der Rolle des Auswärtigen Amtes im Nationalsozialismus absolut unabdingbar, für uns alle heute, für uns alle in der Zukunft.