Grußwort von Prof. Dr. Dorothea Weltecke Leiterin der Forschungsstelle für Aramäische Studien, Universität Konstanz
Eure Eminenz Mor Philoxenos Matthias Nayish, Bischof der syrisch-orthodoxen Erzdiözese in Deutschland, Eure Eminenz Mor Julius Hanna Aydin, Eure Eminenz Odisho Oraham, Bischof der Heiligen Apostolischen und Assyrischen Katholischen Kirche des Ostens, Würdenträger in Kirche und Politik, Eure Exzellenz Herr Ashot Smbatyan, außerordentlicher und bevollmächtigter Botschafter der Republik Armenien, sehr geehrter Herr Cem Özdemir, Parteivorsitzender der Grünen, sehr geehrter Herr Daniyel Demir, Vorsitzender des Bundesverbandes der Aramäer in Deutschland, sehr geehrte wissenschaftliche Kollegen, sehr geehrte Damen und Herren, liebe Freunde,
aus Konstanz möchte ich Ihnen die besten Grüße ausrichten und um Entschuldigung bitten, dass ich an diesem wichtigen, zweiten Gedenktag, zugleich dem ersten ökumenischen Gedenktag der aramäischen Christen, nicht teilnehmen kann.
Aus der gemeinsamen Berliner Initiative von Aramäern, Armeniern und Griechen „Mit einer Stimme sprechen“ ist die „Fördergemeinschaft für eine ökumenische Gedenkstätte für Genozidopfer im Osmanischen Reich e.V.“ hervorgegangen. Sie betreut die Errichtung eines Gedenkortes für alle Ermordeten des Völkermordes, an dem in diesem Jahr zum zweiten Mal ein gemeinsames Gedenken stattfinden konnte. Vielen von Ihnen werden heute Nachmittag dabei gewesen sein; viele der armenischen und griechischen Gemeinschaft werden heute Abend unter Ihnen sein. Auch Ihnen meinen herzlichen Gruß.
Aus dem Wunsch, auch an die eigenen, in der öffentlichen Diskussion gar nicht repräsentierten, Opfer mit einem eigenen Feiertag denken zu können, ist von der syrisch-orthodoxen und syrisch-katholischen Kirche der 15. Juni unserer Kalenderrechnung gewählt worden. Er stellt den Angriff auf die aramäischen Christen in der Stadt Nisibis in den Mittelpunkt. Nisibis, das ist ein zentraler Ort gemeinsamer syrisch-aramäischer Geschichte.
Als assyrische Provinzhauptstadt, als Grenzstadt unter parthischer, seleukidischer, römischer, persischer und schließlich muslimischer Herrschaft, war Nisibis immer wieder umkämpft, hatten die Bewohner sich mit neuen Herren abzufinden und wurden bisweilen vertrieben. Und doch wurde Nisibis zusammen mit Edessa der Ort der großen theologischen Schulen der syrischen Traditionen. Diese Schulen haben einen zentralen Platz nicht nur in der gemeinsamen Geschichte der Konfessionen der syrischen Traditionen, sondern in der transkulturellen, gemeinsamen Geschichte des Christentums überhaupt. Die Kirchen syrischer Tradition waren im 8. Jahrhundert tatsächlich vom Atlantik bis zum Pazifik wirksam – nie als herrschende politische Macht, nie als militärische Expansion, sondern als theologisches und spirituelles Wirken in Askese, Lehre, Wissenschaft und Liturgie. In einer Gegenwart, in der wir uns global und in Deutschland über unsere Zukunft Gedanken machen müssen und zurückschauen, um uns zu orientieren, können Nisibis und Edessa deshalb, so meine ich, gute Anker des Nachdenkens für uns alle werden.
Die eigene Geschichte – von den aramäischen, assyrischen, chaldäischen und babylonischen Reichen, über das Leben unter Griechen, Persern und Römern, über die frühe Christianisierung, über islamische Herrschaft, über Kolonialzeit und Modernisierung – hin zur Teilhabe in der modernen Welt in West und Ost ist ein wichtiges Thema, das aramäische Christen intensiv beschäftigt. Und zu dieser eigenen Geschichte gehört die nicht heilen wollende Erinnerung an das Unrecht der Ermordung und Vertreibung und an den Verlust der uralten Städten aramäischer und assyrischer Kultur.
Sie verbindet sich in diesem Jahr mit der Verzweiflung nicht nur über das Sterben und die Flucht so vieler Menschen, sondern auch über die Verwüstungen, die jetzt im Augenblick an diesen Stätten kultureller Erinnerung verübt werden, in Diyarbakir/Amid, in Midyat, in Nusaybin/Nisibis, in Mossul. Im letzten Jahr um diese Zeit waren wir bereits empört und traurig. Heute hat sich die Lage in Syrien, im Irak und in der Türkei weiter dramatisiert.
Die Erfahrung mit der Völkermordkonvention von 1948, die den Völkermord zum Verbrechen erklärt, ist ernüchternd. Massenmorde, die von einem Staat an seiner eigenen Bevölkerung geplant und verübt werden, werden durch diese Konvention nicht verhindert. Das liegt vor allem daran, dass sich die Vertragspartner seit 1948 nicht nachhaltig und entschieden genug in staatlich organisierte Verbrechen eingemischt haben, seien sie in Ost-Timor, in Serbien, in Ruanda, im Sudan oder andernorts begangen worden. Die gewaltoffenen Räume in Syrien und Irak gar, die heute von unterschiedlichen Interessen umkämpft sind, erscheinen erst recht nicht als lohnendes Ziel außenpolitischer Entschlossenheit. Die Weltgemeinschaft ist also auch nach 1948 wiederholt zum Zeugen derselben Vorgänge geworden.
Trotzdem – es war ein erster Schritt zu einer aktiven Zeugenschaft, dass Deutschland endlich das Schweigen über den jungtürkischen Völkermord von 1915 durch eine Resolution des Bundestages am 2. Juni gebrochen hat. Allen, die dazu beigetragen haben, dass diese Resolution verabschiedet werden konnte, sei herzlich gedankt. Herrn Özdemir gebührt besonderer Dank nicht zuletzt deshalb, weil die Reaktionen auf diese Resolution Sie und viele andere Abgeordnete ernsthaft in Gefahr bringen. Ich persönlich habe mit einer Welle des Hasses dieses Ausmaßes nicht gerechnet. Sie folgt anderen bestürzenden Hasswellen, die wir in diesem Jahr in Deutschland erlebt haben.
Wenn Teile der Bevölkerung eines der reichsten europäischen Länder seinen demokratischen Konsens in Frage stellt, weil wir uns in einer gefährdeten Welt neuen Herausforderungen stellen müssen, muss uns dies alle besorgen. Die Umsetzung der Völkermordkonvention nicht nur durch nachträgliche Gerichtsprozesse, sondern durch entschiedenes Handeln heute muss deshalb eine Forderung sein, die sich an das Gedenken an das Leid der Opfernachnachfahren anschließt. Dies ist die Verantwortung aller Länder, die diese Konvention ratifiziert haben, auch unsere.
Das gilt auch für die Geschichte des Völkermords von 1915. Das Deutsche Reich trug als Bündnispartner des Osmanischen Reiches im Ersten Weltkrieg eine Mitverantwortung, die bis heute bei weitem nicht genug erforscht wurde. Die Deutschen waren unter anderem bestens über die damaligen Ereignisse informiert. Doch duldeten sie die Gewalt, um die politischen und militärischen Ziele des Reiches nicht zu gefährden.
Damit ist die Untersuchung der Ereignisse auch eine Aufgabe für deutsche Historiker. Aktuell fördert die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) jedoch kein einziges Projekt zu diesen staatlich organisierten Massenverbrechen. Deshalb habe ich vor einem Jahr anlässlich des ersten Gedenktages vorgeschlagen, dass sich deutsche Historiker verstärkt der deutschen Rolle im Völkermord zuwenden.
Auch die Nachfolgerin des Deutschen Reiches, die Bundesrepublik, sollte sich der deutschen Verantwortung stellen. Die Einsetzung einer Historikerkommission durch den Deutschen Bundestag nach dem Vorbild der unabhängigen Historikerkommission zur Untersuchung der Rolle des Auswärtigen Amtes im Nationalsozialismus könnte in unserer gegenwärtig aufgeheizten Situation ein wichtiger erster Schritt sein. Es gibt in Deutschland viele Spezialisten – ich selbst gehöre ausdrücklich nicht dazu – die die Kompetenz für die Mitarbeit in einer solchen Kommission besitzen, wie Herr Prof. Boris Barth, Herr Prof. Mihran Dabag, Frau Prof. Tessa Hoffmann und andere.
Verehrte Anwesende, die Wunden der Nachfahren werden nur durch Anerkennung weniger schmerzen, die Verantwortung der Täternachfahren wird nur durch genaue historische Erforschung tragbar. In einer Gesellschaft, in der wir alle miteinander leben, müssen wir die Vergangenheit studieren, übereinander lernen und miteinander sprechen. Wir haben als deutsche aramäische Christen, als türkischstämmige Deutsche, als Deutsche mit hessischen Wurzeln – wie ich –, jeder unsere besondere Verantwortung für die Zukunft des nächsten Jahres.