Festrede von Cem Özdemir Bundesvorsitzender von Bündnis 90/Die Grünen
Brix ramšo! Ich hatte jetzt die Gelegenheit, einige Redner vor mir zu hören. Während sie reden, hatte ich das Gefühl, es fehlt etwas. Es fehlt eine Begrüßung. Wie schön wäre es, wenn man heute Abend hätte sagen können, „Willkommen Botschafter der Republik Türkei“, wie schön wäre es, wenn man hätte sagen können, „Willkommen Mufti, Imam aus der muslimischen Gemeinde“. Oder Brüder und Schwester, die Muslime sind. Es mag sein, dass ich mich jetzt so anhöre, als würde ich von einer weiten Welt erzählen. Vor einiger Zeit hätten viele wahrscheinlich auch gesagt, dass der Bundestag mal eine Resolution bei allen Fraktionen praktisch einstimmig fasst, und den Völkermord an den östlichen Christen anerkennt, es hätte jemand kaum möglich gehalten. Wenn das gelungen ist, wird es uns auch gelingen, dass wir eines Tages eine Gedenkfeier machen, an der der türkische Botschafter teilnimmt, an der Vertreter der Muslime in Deutschland teilnehmen. Ich bin mir ganz sicher, dass wir diesen Tag zusammen erleben werden.
Wir gedenken heute der Opfer des „Sayfo“, Sie wissen, was dieses Wort auf Aramäisch bedeutet. Es ist der Begriff für Schwert, damit ein Synonym für den Völkermord, der stattgefunden hat. In den Jahren 1915 bis 1923 sind im Osmanischen Reich nicht nur ungezählte Armenier, sondern auch hunderttausende griechisch-orthodoxe und syrische Christen – Aramäer, Assyrer und Chaldäer – Opfer von Massaker, Massenmord und Deportation geworden. Dies entspricht etwa zwei Dritteln der damals auf Forschungsstelle für Aramäische Studien Jahresbericht 2013 – 15 20 Veranstaltungen dem Gebiet der heutigen Türkei lebenden Aramäerinnen und Aramäer. Hunderttausende wurden außerdem aus ihrer angestammten Heimat vertrieben oder als Kinder verschleppt oder zwangsislamisiert. Uralte Siedlungen wurden für immer aufgegeben. Wir haben in den Reaktionen auf die Verabschiedung der Resolution gesehen, wie wenig Wissen es über die Verbrechen an den Armeniern und anderen Christen im Osmanischen Reich gab. Aber dennoch wissen doch viele, dass es – bitte entschuldigen Sie diese lapidare Formulierung – dass es die Armenier überhaupt gibt. Dies hat – ich schaue den Botschafter der Republik Armenien an – natürlich auch damit zu tun, dass es mittlerweile das Land Armenien gibt. Aramäer, Chaldäer und Assyrer hingegen haben kein Land und damit keine Regierung, die die Pflege ihrer Kultur, Sprache und Religion fördern kann. Viele in Deutschland haben noch nie von den syrischen Christen gehört. Letztes Jahr hatte ich die Ehre, bei einem Besuch in Armenien gemeinsam mit meiner Fraktionskollegin Ekin Deligöz einen Kranz in der Gedenkstätte Zizernakaberd in Jerewan niederzulegen. Die Gedenkstätte – Sie wissen es - dient als symbolischer Ort für Armenierinnen und Armenier weltweit, um ihrer ermordeten Vorfahren zu gedenken. Sie bietet die Möglichkeit, erlittenes Leid zu verarbeiten.
Die syrischen Christinnen und Christen, die Nachfahren der aramäischen, assyrischen, chaldäischen Opfer des Völkermords vor hundert Jahren, sie haben diese Möglichkeit nicht. Sie haben kein Land, in das sie endlich Zuflucht finden können. Sie haben kein Israel, und sie haben kein Armenien. Umso wichtiger ist es, dass Ihnen unser Land, dass Ihnen Deutschland eine Heimat bietet. Ein Zuhause für Ihre Familien. Aber auch die Möglichkeit, Ihre Religion frei auszuüben. Daher begrüße ich es sehr, dass mit der Schaffung eines zentralen Gedenktags mehr Öffentlichkeit für das Schicksal der syrischen Christen geschaffen wird. Ich möchte an dieser Stelle Herrn Amill Gorgis für sein Engagement danken, für die Schaffung einer ökumenischen Gedenkstätte für armenische, aramäische und griechisch-orthodoxe Christen in Berlin-Charlottenburg. Der ökumenische Charakter dieser Gedenkstätte ist wegweisend. Wir müssen unsere religiösen Unterschiede auch im Gedenken endlich überwinden. Forschungsstelle für Aramäische Studien Jahresbericht 2016 Veranstaltungen 21 Was uns eint, ist die Erinnerung an die Opfer, aber auch das Ehren der „Helden“, die sich dem Völkermord in den Weg gestellt haben, und der Glaube, dass Menschlichkeit am Ende immer stärker sein wird, als die Barbarei.
Aber nicht nur weil heute Armenier, Aramäer, Chaldäer, Assyrer und Pontosgriechen unter uns leben, brauchen wir solche Gedenkstätten, brauchen wir die Aufarbeitung dieses schmerzvollen historischen Kapitels. Sondern wir haben uns heute auch hier zusammengefunden, weil die Geschichte Ihrer Vorfahren auch unser aller Geschichte, also ein Stück deutscher Geschichte ist. Deutsche Diplomaten, deutsche Regierungsbeamte, deutsche Militärs, deutsche Missionare, sie wussten genau was damals geschah. Aber die Regierungsverantwortliche in Berlin sahen im Osmanischen Reich nicht nur weg, als Armenierinnen und Armeniern zu Hunderttausenden ermordet wurden, sondern auch als das gleiche furchtbare Schicksal die anderen christlichen Gruppen im Land ereilte. Ich möchte es an dieser Stelle mit aller Klarheit noch einmal sagen: Diese deutsche Mitschuld am Völkermord ist der wichtigste Grund, warum wir die Debatte am 2. Juni im Bundestag geführt haben und warum wir diese Resolution verabschiedet haben. Über hundert Jahre nach dem Völkermord und ein halbes Jahrhundert nachdem wir in Deutschland begonnen haben, die Shoah endlich aufzuarbeiten, war es allerhöchste Zeit, sich auch diesem dunklen Kapitel unserer eigenen deutschen Geschichte endlich zu widmen.
Es ist vielfach kritisiert worden, die Armenier, Pontosgriechen und syrischen Christen, die heute in Deutschland leben, seien von der Bundestagsresolution nicht ausreichend gewürdigt worden. Lassen sie mich sagen: Meiner Fraktion war es besonders wichtig und mir selber, dass der Titel des Antrags nicht nur von Völkermord an den Armeniern, sondern auch von einem Völkermord auch an anderen christlichen Minderheiten in der Türkei spricht. Übrigens: Dass die Pontosgriechen nicht explizit erwähnt werden, auch wenn sie vielleicht durch den Titel abgedeckt sind, hätte ich gerne anders gehabt, leider war das mit der Koalition nicht durchsetzbar. Wenn wir im Antrag von Versöhnung zwischen Armeniern und Türken sprechen, dann meinen wir damit natürlich auch die Menschen mit armenischen oder türkischen Wurzeln, die festen Bestandteil unserer deutschen Gesellschaft geworden sind. Die Aufarbeitung beginnt vor unserer eigenen Türe. Das heißt: Wir wollen die Hand ausstrecken zu den Nachfahren der Opfer, die heute unter uns leben. Wir möchten, nein, wahrscheinlich sogar wir müssen die Mittäterschaft des Deutschen Reiches am Völkermord umfassend aufarbeiten.
Ich sprach gerade schon von den heftigen Reaktionen auf die Resolution und die Bundestagsdebatte. Sie alle wissen aus der Presse, das dies – so möchte ich vorsichtig sagen - zur sehr unfreundlichen Reaktion geführt hat, insbesondere für die Abgeordneten türkischer Herkunft im deutschen Bundestag. Ich habe von vielen von Ihnen gehört, dass Sie sich sorgen machen. Ich will Ihnen sagen, weder um mich noch um meine Kollegen müssen Sie sich Sorgen machen. Sorgen machen müssen Sie sich um die Menschen in Syrien, Sorgen machen müssen Sie sich um die Menschen im Irak, Sorgen machen müssen Sie sich um die Christen in der Türkei und alle, die sich dort für die Demokratie einsetzen. Sie dürfen auch hier in dieser Stunde nicht vergessen. Solange dieser Krieg tobt, haben wir als Menschen versagt. Solange wir nicht alles dafür getan haben, dass der Krieg dort endlich beendet wird und diese Kultur, diese jahrtausendealte Kultur dort in ihrem ursprünglichen Heimstätte Forschungsstelle für Aramäische Studien Jahresbericht 2013 – 15 22 Veranstaltungen eine Zukunft hat, damit meine Kinder, Ihre Kinder eines Tages diese wunderbare Kultur dort in ihrem ursprünglichen Siedlungsgebiet studieren können, solange haben wir als Menschen versagt, meine Damen und Herren.
Ich will die Gelegenheit aber auch nutzen, ein Wort des Dankes zu sagen. Ich habe immer gesagt, niemand muss die Resolution des Deutschen Bundestags richtig finden. Niemand muss sie begrüßen. Das gehört zur Demokratie dazu, dass man unterschiedlicher Meinung ist. Aber eins muss auch klar sein: Mordaufrufe, oder gar die Forderung nach Bluttest – übrigens ich habe mich einem solchen Bluttest unterzogen, aber nicht weil es der Staatspräsident eines anderen Landes dies gewünscht hat, sondern weil ich zufälliger Weise beim Arzt war und mich untersuchen lassen musste. Das wird Sie vielleicht wundern, aber auch nach mehreren Nachfragen bei meinem Arzt konnte er nicht bestätigen, dass das Blut, das durch meine Adern fließt, einer bestimmten Nation gehört. Da kann ich, so glaube ich, im Namen von allen sprechen. Ich glaube, wir alle fühlen uns als Bürger dieses Landes und in erster Linie verpflichtet, dafür zu sorgen, dass dieses Land lebenswerter wird. Danach sind wir Angehörige einer Religion, einer Sprache, einer Ethnie oder was auch immer. Die wenigsten von uns hatten Einfluss als was sie geboren werden. Ich hatte wenig Einfluss darauf und ich vermute mal, dass es Ihnen nicht anders ging.
Ich will die Gelegenheit auch nutzen, zu danken. Zu danken, dass bei aller Unterschiedlichkeit, dass immerhin die Türkische Gemeinde Deutschland war und Türkischer Bund Berlin-Brandenburg (TBB) war, die sich klar gegen manche seltsame Tonlage aus Ankara gestellt haben, gesagt haben, dass es nicht in Ordnung ist, eine solche Diskussionskultur in der Bundesrepublik Deutschland durch die Morddrohungen beispielsweise zu führen. Wir mögen in der Sache verschiedener Meinung sein, aber das will sehr klar sagen, ich erwarte von allen Verbänden, gerade von türkischen Verbänden, dass sie diese Debatte so führen, dass klar wird, dass man nicht mit den Zehenspitzen auf dem Boden unserer Verfassung steht, sondern mit beiden Beinen auf dem Boden der Verfassung steht. Da passt es nicht dazu, wenn man schweigt, wenn es Morddrohungen gibt. Alle müssen, damit man sie ernst nimmt in der Diskussion und ich will gerne alle ernst nehmen, müssen klar machen, wir können unterschiedlicher Meinung sein, aber Gewalt und Androhung von Gewalt, dass man versucht, Menschen Mundtot zu machen, ist nicht akzeptabel.
Die Reaktionen haben mir auch gezeigt: Dieser Antrag, den wir am 2. Juni beschlossen haben, dass vielleicht gerade deswegen so viele betroffen oder vielleicht doch provoziert, auch wenn es – das können Sie mir glauben – alles andere als die Absicht von mir und von anderen war, die diesen Antrag auf den Weg gebracht haben, weil - das merke ich jeden Tag - weil es riesige Wissenslücken um dieses Thema gibt. Viele, die mich anschreiben, wie bei Facebook, bei Twitter oder anderswo ihre Einträge hinterlassen, wenn ich mal die ganz hasserfüllte weglasse. Sie handeln nicht aus Hass, sondern weil sie nie etwas anderes gelernt haben. Woher denn. In der türkischen Schule haben sie nichts darüber gelernt. Im Elternhaus haben sie häufig auch nichts anderes gehört. Und wenn sie heute einen der Fernsehsender anschauen, der im weitesten Sinne zum Reich des Staatspräsidenten gehört, dann werden sie vermutlich auch nichts darüber erfahren. Und wenn sie darüber erfahren, werden sie ganz andere Dinge erfahren, als diese, die tatsächlich ereignet haben.
Das heißt: Das offizielle türkische Narrativ, in dem die Geschichte des Osmanischen Reichs eben keine dunklen Flecken hat, ist auch deswegen so stark, weil in unseren Schulen der Bundesrepublik Deutschland der Völkermord an den Christen im Orient bislang gar kein Thema war. Deshalb bin ich fest davon überzeugt, dass wir auch eine Erinnerungskultur zum Völkermord im Osmanischen Reich, die auf solider Forschung fußt, in der Bundesrepublik Deutschland nämlich brauchen. Das heißt konkret: Wir müssen das Thema in unsere Schulen bringen, in den Geschichtsunterricht, aber zum Beispiel auch in den Deutschunterricht. „Die 40 Tage des Musa Dagh“ muss endlich Eingang finden in allen Schulen in unserem Land, in jedem Bundesland. Und – es wurde heute bereits gesagt – wir müssen die wissenschaftliche Forschung fördern. Zum Glück hat sich da beim Völkermord an den Armeniern bereits einiges getan in den letzten Jahren. Wir haben das Institut für Genozid- und Diaspora-Forschung an der Ruhr-Universität Bochum, wir haben das Lepsiushaus, und wir haben verdiente Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler wie beispielsweise Herrn Gust, der die Dokumente des Auswärtigen Amts ausgewertet hat. Übrigens dafür gesorgt hat, dass sie ins Türkische übersetzt wurden. Diese Forschungen müssen wir weiter unterstützen und ausbauen.
Aber was die anderen Opfergruppen betrifft, so gibt es noch sehr viel Nachholbedarf. Die Forschung zum Schicksal der Aramäer findet immer noch hauptsächlich an theologischen Fakultäten statt. Einzige Ausnahme: die Forschungsstelle für Aramäische Studien an der Universität Konstanz - natürlich in meinem Bundesland, in Baden Württemberg. Gestatten Sie einem anatolischen Schwaben, dass er auch mal Stolz ist auf sein eigenes Bundesland - die die heutige Gedenkfeier mit initiiert hat. Herr Amill Gorgis macht seit Jahren auf die syrischen Chroniken und Berichte von den Ereignissen aufmerksam und hat sie durch Übersetzungen einer deutschen Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Was aber für die Verbrechen an allen christlichen Bevölkerungsgruppen des Osmanischen Reichs gilt – unser größter Forschungsauftrag muss die Aufarbeitung unserer deutschen Mitverantwortung sein. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft sollte entsprechende Mittel zur Verfügung stellen. Die Aufarbeitung des Völkermordes muss Teil der historischen Fakultäten werden, Teil der Studienpläne für die Historikerausbildung in Deutschland. Dann wird übrigens auch das Thema auch viel leichter Einzug in die Lehrpläne unserer Schulen finden können! Denn nur wenn wir Lehrerinnen und Lehrer haben, die wissen, was 1915/16 passiert ist, können wir erwarten, dass an den Schulen auch umfassend darüber diskutiert wird. Und Wissenschaftler, die sich mit diesen schwierigen Themen beschäftigen, dürfen nicht eingeschüchtert werden.
„What‘s past is prologue“ – diese weisen Worte von William Shakespeare bringen es auf den Punkt. Wir müssen unsere Geschichte aufarbeiten, damit wir in der Gegenwart friedlich und respektvoll zusammenleben können. In Deutschland leben etwa 150.000 Aramäerinnen und Aramäer, in der EU insgesamt bis zu 300.000. Allein in Berlin gibt es vier syrisch-orthodoxen Gemeinden sowie eine chaldäische Gemeinde. In meiner Rede im Bundestag am 2. Juni habe ich den Wunsch geäußert, dass die Menschen in der Türkei ein Bild von ihrem Land vermittelt bekommen, das weder schwarz noch weiß, sondern bunt und komplex ist, so wie die Realität. Das wünsche ich mir auch für Deutschland. Ich wünsche mir ein Deutschland, das stolz ist auf seine religiöse und kulturelle Vielfalt, das die Schatten der Vergangenheit als Auftrag sieht und nicht als Last. Die orientalischen Christen jedenfalls gehören genauso zum Christentum in Deutschland wie die protestantische und katholische Kirche.
Sehr verehrte Damen und Herren, liebe Freundinnen und Freunde,ich will das auch mal sagen: Auch wenn es schwierig ist in den Ländern der Erde, zumindest in Deutschland muss die Sprache Christi, Aramäisch, Zukunft haben. Auch da haben wir alle Verantwortung, Christen oder nicht Nicht-Christen haben eine gemeinsame Verantwortung. Mit der Resolution ist der Bundestag einen großen Schritt in diese Richtung gegangen. Aber auch wir im Hohen Haus haben noch Hausaufgaben zu machen. Ich begrüße, dass unser Bundestagspräsident Norbert Lammert dafür plädiert hat, dass der Bundestag nun auch den Völkermord an den Herero und Nama anerkennt. In diesem Sinne war der 2. Juni zwar einerseits das glückliche Ende einer langen Debatte, aber - für mich ist damit die Debatte zu Ende oder unsere Arbeit getan - gleichzeitig auch der Anfang neuer wichtiger Debatten und Projekte. Wenn ich darf, würde ich zum Schluss gerne als jemand aus muslimischer Familie aus dem Neuen Testament zitieren. 1. Korinther 13 heißt es: „Und wenn ich mit Menschen und Engelszungen redete und hätte die LIEBE nicht, so wäre ich ein tönendes Erz oder eine klingelnde Schelle.“ Wenn wir das als gemeinsamen Auftrag nehmen, dass wir unsere Kinder nicht im Geiste des Hasses erziehen, sondern im Geiste der LIEBE, dann bin ich fest davon überzeugt, dass wir alle gemeinsam eine Welt schaffen können, ohne Leid, ohne Unterdrückung, ohne Hass und ohne Krieg!
Tawdi sagi!