Seminar 2008: Bericht
Einschließung und Ausschließung in Prozessen der Definition als Gemeinschaft
Das am 23. – 25. Mai 2008 in der Akademie „Die Wolfsburg“ in Mülheim a. d. Ruhr stattgefundene V. Seminar in der Reihe „Erzählte Welt - Erlebte Welt“ bot uns spannende Diskussionen über die Einschließung und Ausschließung in Prozessen von Vergemeinschaftlichung in der Moderne. Zentrale Fragen, die sich mit der Problematik der Identitätsfindung in der Moderne, Bildung einer Diaspora-Gemeinschaft, befassten, wurden ausführlich und intensiv besprochen.
Prof. Dr. Mihran Dabag und Dr. Medardus Brehl vom Institut für Diaspora- und Genozidforschung (IDG) leiteten das Seminar. Des Weiteren referierten PD Dr. Shabo Talay und Amill Gorgis.
Die Moderne als Epoche
Einleitend wurde das Konzept der Moderne geklärt. Dabei wurde das Missverständnis erarbeitet, dass der Begriff der Moderne nicht verwechselt werden darf mit dem Begriff des Modernseins. Die Moderne ist hier als eine Epoche zu verstehen, die sich aus ganz bestimmten Elementen definiert. Die Moderne beschreibt einen bestimmten Zeitabschnitt, der durch einen Umbruch in allen Bereichen des individuellen, gesellschaftlichen und politischen Lebens charakterisiert wird und in ihm ein Prozess stattfindet, in dem ganz besonders die Tradition, der Glaube und der Gemeinschaftssinn der Verwissenschaftlichung und Kommerzialisierung weichen. Zu den wesentlichen Elementen, die die Moderne ausmachen, zählen Säkularisierung (Aufklärung), Industrialisierung, Fortschrittsglaube, Rationalität, Individualisierung und Domestizierung (Nutzung der Natur als neutrale, erneuerbare Ressource). Sie stellt klare Regeln, Vorstellungen von Moral, Staat und Gesellschaft. Das Ziel der Moderne besteht darin, die Gesellschaft zu homogenisieren. Das würde bedeuten, dass die Gesellschaft nicht mehr aus multiplen Gemeinschaften besteht, sondern aus homogenen Individuen. Dass in der Moderne keine Gruppierungen, sondern die einzelnen Menschen im Vordergrund stehen, sieht man auch am Beispiel der Entwicklung der Menschenrechte als Individualrechte sowie die Abwandlung der Minderheitenrechte von Kollektivrechten hin zu Individualrechten.
Die Stellung der aramäischen Gemeinschaft in der Moderne
Nach Klärung der Definition der Moderne wurde diskutiert, was dieses Konzept Moderne für die Aramäer als eine traditionelle Gemeinschaft bedeutet. An diesem Punkt stellt sich die Frage, welche Konzepte wir als aramäische Gemeinschaft angesichts der Moderne, in der wir als traditionelle Gemeinschaft keinen Platz haben, entwickeln können, um sie aufrecht zu erhalten. Denn der Glaube und die alten Traditionen, die bis dato die aramäische Gemeinschaft im Wesentlichen ausmachen, werden vehement vom Zeitalter der Moderne verneint. Der Status quo der aramäischen Gesellschaftsstruktur läuft entgegen der von der modernen Gesellschaft vorgegeben Richtung und ist daher auf Dauer so nicht überlebensfähig. Unabhängig von seiner nicht zeitgemäßen Konzeption, steht die aramäische Gemeinschaft vor dem Dilemma, dass die modernen Staaten im Westen nationale homogene Gesellschaften anstreben. Die Konzeption der Moderne überwindet die Gemeinschaften innerhalb einer Gesellschaft und lässt allein die Individualität zu.
Exkursion: Identitätsfindung
Möchten die Aramäer als Gemeinschaft die Moderne überleben, so sind sie herausgefordert, vorerst ihre Gemeinschaft zu definieren. Sie sind genötigt, eine Antwort auf die Frage zu finden, wer zu dieser Gemeinschaft gehört. Konkret: Definiert sich die Gemeinschaft durch die Sprache, durch die Konfession oder/und durch die gemeinsame Geschichte? Es wurde die Frage aufgeworfen, ob nur die Mitglieder der Syrisch-Orthodoxen Kirche oder doch auch die Angehörigen der Chaldäischen und Assyrischen Kirche bzw. aller anderen syrischen Kirchen dieser Gemeinschaft angehören. Die Vorträge über die Geschichtsschreibung der einzelnen Konfessionen und über die Sprache der Mitglieder dieser Gemeinschaften sollten ein Aufschluss darüber geben.
a) Die Konfessionen
Amill Gorgis referierte über die syrisch-orthodoxe Gemeinschaft und ihre Gemeinsamkeiten mit der assyrischen-apostolischen und chaldäischen Gemeinschaft, mit denen uns u. a. das Fasten oder die liturgische Sprache und die gemeinsamen Kirchenväter verbinden. Was diese Gemeinschaften voneinander trenne, seien nur die theologischen Streitigkeiten im 4. Jahrhundert. Es gehe darum, dass die einzelne Gemeinschaften ihre Geschichtsschreibung säkular verfassen, so würde man über die theologischen Dispute hinweg zu einer Einheit kommen.
b) Die Sprache
Den zweiten praktischen Vortrag hielt PD Dr. Shabo Talay. Er erarbeitete ein Konzept für eine Entwicklung einer gemeinsamen aramäischen Hochsprache. Zunächst war es wichtig, historisch zu definieren, was Aramäisch ist, welche Sprachen oder Dialekte dazugehören. Des weiteren war zu klären, was hinter dem Begriff „gemeinsam“ steht und welches Ziel eine gemeinsame Hochsprache verfolgt.
Talay kam zu dem Ergebnis, dass eine gemeinsame Hochsprache aus den beiden neuaramäischen Dialekten des Westens und des Ostens erarbeitet werden könnte. Ein Zurückgreifen auf das Syrische (Kthobonoyo) sieht er nicht als erforderlich. Vorstufe einer gemeinsamen Hochsprache wäre die Gründung einer Akademie für den westlichen Dialekt – das Surayt. Eine solche Institution ist für die Entwicklung und Pflege dieser Sprache unablässig. Die Konstruktion der Sprache, so etwa bei Wortneubildungen müsste stets Hand in Hand mit dem Ostdialekt laufen. So könnte man langfristig in einer weiteren Entwicklungsstufe eine gemeinsame Hochsprache erarbeiten.
Lösungsansätze für das kulturelle Überleben in der Moderne
Am Sonntag wurde die Idee der Bildung einer Nation geäußert, eine Nation ohne Nationalstaat um unser kulturelles Erbe zu erhalten, zu der sich alle Aramäer gehörig fühlen. Eine der wichtigsten Grundlagen für die Nation, wäre u. a. die Sprache.
Wichtig ist es vorher zu klären, ob wir überhaupt eine säkulare Gemeinschaft realisieren wollen oder nicht, eine Nation ohne Territorium werden möchten und ob wir uns religiös definieren oder nicht. Die Kirche muss sich als Teil der Gesellschaft sehen und nicht als die Gesellschaft.
Es wurden aufschlussreiche, interessante und sehr energisch diskutierte Themen angesprochen, die einen zum Nachdenken gebracht haben und die Problematik der Erhaltung unserer aramäischen Gemeinschaft verdeutlicht haben.